Marcel
Duchamp meinte, die Maler sollten
sich mehr von Literaten als von Malerkollegen inspirieren lassen. Mit großer Intensität arbeitete ich 2023-24 an einer künstlerischen Gedichtinterpretation von Joachim Ringelnatz.
Joachim
Ringelnatz war ein
deutscher Schriftsteller, Kabarettist und Maler, der vor allem
humoristische Gedichte verfasste mit witzigen und wohlklingenden
Reimen.
Unter dem Namen Hans Bötticher wurde er am 7. August 1883 im
sächsischen Wurzen geboren. Seine Ehepartnerin Leonharda
Pieper, mit der er von 1920 bis zu seinem Tod 1934 verheiratet war,
nannte er liebevoll Muschelkalk.
Zur Zeit der Weimarer Republik zählten Schauspieler:innen wie Asta
Nielsen und Paul Wegener zu seinen engen Freunden und Weggefährten.
Im Alter von nur 51 Jahren starb er in Berlin an Tuberkulose
(Erkrankung der Atem- Wege). Sein teils skurril, expressionistisch,
witzig und geistreich
geprägtes Werk ist noch heute sehr
bekannt und beliebt.
Meine folgenden vier Werke stellen
die bildnerische Interpretation eines seiner beliebten Gedichte
dar:
„Ich
habe dich so lieb“
Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
eine
Kachel aus meinem Ofen
Schenken.
Ich habe dir nichts
getan.
Nun ist mir
traurig zu Mut.
An den Hängen der
Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.
Vorbei – verjährt –
Doch nimmer
vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange
währt,
Ist leise.
Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund
bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht
schreiben.
Wir können nicht bleiben.
Ich lache.
Die Löcher sind die
Hauptsache
An einem Sieb.
Werk 1 Titel:
Ich habe dich so lieb
Technik: Materialbild, Acryl auf Hemd/MdF - Größe: 61 (96) x 123 cm
Dieses Werk von 2000 kennt ihr schon von meinem Katalog. Mit drei weiteren Materialbildern knüpfte ich daran an.
Im Jahr 2000 war dieses bekannte Gedicht Ausgangspunkt für eines
meiner Werke. Damals stand die Überschrift im Mittelpunkt. Der
Satz „Ich habe dich so
lieb“ war Ringelnatz
offenbar besonders wichtig. Es
gibt eine schöne Redewendung: Wenn man jemanden lieb hat und
für ihn alles tun würde, dann sagt man, dieser Mensch könnte „mein
letztes Hemd“ bekommen.
Ich
wandte
mich nach
Absolvieren der wichtigsten Techniken wie Zeichnen, Radierung,
Aquarell, Malerei auch Collagen zu, und
fertigte Werke
mit verschiedenen
Materialien und Fundstücken
an,
sowie objets trouvés,
ohne Künstler wie Marcel Duchamps (1887-1968), Robert Rauschenberg
(1925-2008) und Antoni Tapiès (1926- 2012) damals zu kennen.
Dieses „letzte
Hemd“ steht im Mittelpunk dieses Werkes während meiner damaligen
weißen Phase. Es gehörte meinem Lebenspartner und ich verwendete
es spontan, ohne ihn vorher gefragt zu haben. Ich wusste genau, er
würde es mir „ohne Bedenken … schenken“. Das Hemd hängt
links, damit daneben genug Raum verbleibt, für das Gedicht und für
die Liebe. Die nur leben kann, wenn jeder genug Raum bekommt. Am
oberen Rand des Hemds sind die Löcher des Siebs angedeutet, über
die Ringelnatz in der letzten Strophe des Gedichts schreibt: „Die
Löcher sind die
Hauptsache an einem
Sieb.“
Werk 2
Titel:
traurig zu Mut - Jahr 2023
Technik: Objekt auf Leinwand - Größe: 50 x 50
Auch hier wird
die traditionelle Grenze
zwischen Malerei und Skulptur aufgehoben. Die Malerei
ist
mit einem Objekt aus dem Alltag kombiniert und somit erweitert, hin
zum dreidimensionalen Raum. Das alte Metall-Sieb (von
meiner Aussteuer aus den 70er-Jahren), wie u.a. auch im Werk von
Antoni Tapiès zu finden ist, analog zu seiner (und meiner) Aussage
„Nichts ist gering“, hat auch hier bereits „die Zeit entstellt“
- es hat zwar schon Rost angesetzt, aber noch sind alle Löcher da,
so wie es sich gehört. Aber … Der feurig rote, glänzende
Hintergrund „leuchtet“ und nimmt Bezug auf Ringelnatz´s
Stellung während des NS-Regimes (Bühnenverbot, Bücherverbrennung).
Die Gefangenen innerhalb des Siebs haben „nichts getan“. Sie
werden dargestellt durch namenlose Gesichter, wie ich sie bereits
2013/14 als Symbol für NS-Opfer im Holocaust künstlerisch
verwendete – Böden von Teelichthaltern, mit entsetzten,
aufgerissenen Augen, sowie ein paar Dochthaltern, die seit 2003 in
meinem Werk eines meiner bevorzugten Merkmale für Leidende sind.
Eines der Metallplättchen trägt das Porträt von Joachim
Ringelnatz. Diese Gesichter können, eingesperrt und
zusammengepfercht im Innenraum des Siebs, wie damals in den KZs, nur
durch die Löcher nach draußen schauen – in den Außenraum. Aber
eigentlich wollten sie „nicht bleiben“. Ihnen fehlt es an Atem.
Den hatte man ihnen genommen. Zuletzt sogar den Atem zum Leben,
Überleben. „Traurig zu Mut“
- für die Betroffenen wie für die Überlebenden im Nachhinein. „
Doch nimmer vergessen“. Die Metallstreifen
verwende ich seit längerem gerne als „Rahmen“ bei Kunstwerken –
nichts ist gering!, sowie zur Begrenzung oder Verbindung von Räumen.
Die Hauptsache, wie
sie in Bild 3 folgt, wären damals für die Menschen auch Löcher
gewesen, solche, durch die sie in den Freiraum, die Freiheit hätten
entkommen können.
Werk 3
Titel:
die Hauptsache - Jahr 2023
Technik: Objekt auf Leinwand - Größe: 50 x 50
„Unsere Seele ist wie ein Vogel,
den Fängen der Jägers entkommen;
das Netz ist zerrissen,
und wir sind frei.“ (Ps 124,7)
Wie in Werk 2, erscheint hier wieder das Sieb. Positioniert als
„Hauptsache“ ebenfalls mittig auf der Leinwand, entgegen den
gängigen Regeln der Kunst.
Hier befinden sich jedoch die vorher Eingesperrten, Misshandelten,
diejenigen die „nichts getan“ hatten, in einer neuen Situation:
„vorbei“. Das alte Sieb war im Laufe der Zeit zerbrochen - „die
Zeit entstellt“, die Zeit heilt aber auch Wunden. Dadurch öffnete
sich das Gefängnis der Traurigkeit zu einem großen Loch – das war
„die Hauptsache“. Gesprengt von der Kraft der Liebe, können die
Traurigen nun aus ihrer vorherigen unwürdigen Situation entkommen.
Sie können „reisen“. Sie „können nicht bleiben“. Sie
bekommen Raum – und können wieder atmen ... Symbol dafür die
Libelle, ein kleines Wesen mit hauchdünnen, zarten Flügeln, zart
wie die Liebe. Rein und unschuldig wie die Liebe – und „leise“
wie der nun wieder weiße Hintergrund.
Damit sollte die Liebesgeschichte eigentlich zu Ende sein, aber die Vergangenheit lehrt uns, dass …
Werk
4
Titel: Epilog - Jahr 2023
Technik: Objekt auf und vor Leinwand - Größe: 30 x 30
Ich arbeite gerne mit Zahlen (Fibonacci), auch mit der Zahl 4. Bei
meiner Ikebana-Ausbildung (1965 – 1977) erfuhr ich, dass im
Japanischen die Zahl 4 gleichbedeutend ist mit Tod.
Die Farben weiß – rot – schwarz erinnern an die White, Red,
Black Paintings von Robert Rauschenberg (1951). Mit den White
Paintings thematisierte Rauschenberg den Anspruch,
Kunst und Leben zu verbinden. Dem
stimme ich zu. Schwarz stand bei ihm für die
Selbstbeschränkung auf das
Quasi-Nichts, das ihm bei der Suche nach sich selbst als
Ausgangspunkt diente. Es
bedeutete auch das
Nicht-Wissen, wie es (für
ihn künstlerisch)
weitergehen würde. Auch hier ist dieser Aspekt gegeben. Die
Farbe Schwarz (außen matt, innen glänzend) scheint mit einem
Prozess der Transformation verbunden. Sie lässt sich als Mittel
zur Grenzüberschreitung deuten, vom Sichtbaren zum
Unsichtbaren, vom Materiellen zum Spirituellen, vom Bewussten zum
Unbewussten.
Der Betrachter mag Werk 4 vielleicht dahingehend selbst
interpretieren.
Sicher kennst Du das Kinderlied von 1890: „ Auf der Mauer, auf der
Lauer, sitzt a kloane Wanz´n, schaut´s nur grad die Wanz´n o,
wia die Wanz´n … ko … bis hin zur Pause im Lied – Atempause?
Die Wanze als Abhörgerät? „Bellt“ bereits „ein Hund“?
Für mich ist die Wanz´n zum Todesvogel mutiert und sitzt bereits in
den Startlöchern, um …
auch das Sieb wartet bereits darauf, seine Opfer einzufangen.
Ob sich das grausame Schicksal der Machtergreifung wiederholt, wird
die Zukunft zeigen. Ein deutlicher Ruck nach rechts ist
bereits erkennbar. Ein weiterer Krieg ab 7. Oktober 2023 bestätigt
die schlimmsten Ahnungen.
Ich ende mit einem Zitat, das auch auf mich zutrifft. Auch ich will
mit meinen Werken das politisch-soziale Gewissen des Betrachters
ansprechen - ich will mit meinen Werken Botschaften übermitteln.
„Ich möchte die Leute wachrütteln“, so Rauschenberg, „ich
möchte, dass die Leute das Material betrachten und darauf reagieren.
Ihre individuelle Verantwortung möchte ich ihnen bewusst machen,
sowohl für sich selbst wie für die übrige Menschheit. Wie einfach
ist es, der Welt gegenüber selbstgefällig zu sein. Die Tatsache,
dass du ein paar Groschen für eine Zeitung ausgibst, beruhigt fast
schon dein Gewissen. Mit der Lektüre glaubst du bereits deinen Teil
getan zu haben. Und du wickelst dein Gewissen in die Zeitung, so wie
du deinen Abfall darin einwickelst.“
Danke , dass du bis hierher durchgehalten hast. Ich verrate dir, warum es heute so viel mehr ist. Ich hatte diese Arbeit im Mai 2024 bei einer Ausstellungsbewerbung "Atem der Kunst" in der Art bv Berchtoldvilla eingereicht. Sie wurde von der Kuratorin abgewiesen. Ringelnatz´ Bücher wurden mit
Machtantritt der Nationalsozialisten wurden auf den
Index gesetzt und er erhielt Bühnenverbot. - Ich befinde mich sozusagen in bester Gesellschaft.